Interview

“Unter Alkohol hat Zeit eine andere Dimension”

Zurück ins Jahr 2023: Damals haben wir mit Holger Schwarz gesprochen – noch als aktiver Weinhändler, schon alkoholfrei. Ein Gespräch über die Branche, über Tabus und über die Frage: Gehen große Deals auch ohne volles Glas?

Interview: Sabine Cole, Portrait: ?

Holger Schwarz ist Weinhändler – oder besser: war es. Er gehörte zu den allerersten Naturwein-Händlern in Deutschland und hat die Szene kräftig aufgemischt. Irgendwann aber hat er selbst gemerkt: der Pegel war zu hoch.

„Ich habe mein ganzes Erwachsenenleben viel getrunken, bis irgendwann der Rock-Bottom-Point erreicht war.“

Damit ist er nicht allein. Die Branche trinkt. Aber Holger schon lange nicht mehr – und er ist auch kein Weinhändler mehr.

Als wir ihn 2023 interviewt haben, war er noch im Geschäft. Unsere Frage damals: Mit Wein handeln und selbst keinen trinken – geht das?

Heute (2024) ist einiges anders: Holger setzt sich für alkoholfreie Alternativen wie MURI ein und produziert den Podcast AUFSTURZ über Abhängigkeit, Abstinenz und das Leben danach. Mehr über seine Arbeit findet ihr hier: www.holger-schwarz.net.

Zur Einordnung: Aufgewachsen in einer Winzerfamilie an der Pfälzer Weinstraße, war Holger lange als Sommelier und Weinhändler tätig, bevor er sich neu orientierte.

Und so klang unser Gespräch mit Holger im Jahr 2023 – im Kern bis heute aktuell:

HIGHLEVEL ZERO:

Als Weinhändler ist der Alltag das Trinken. Kann man das so sagen?

HOLGER:

Ja. Ich bin Weinfachmann und vertreibe hochwertige Weine.
Wenn ich einen Gastronomie-Kunden besuche, dann kriege ich großzügig eingeschenkt. Das Essen und Trinken missverstehst du als Kundenpflege. Da kommt dann eins zum anderen.

Der Kunde - oft Spitzengastronomie - sagt dann: Hier, wie findest du die Hirsch-Medaillons, was willst denn dazu trinken? Ich mache einen Vorschlag und wir probieren, der hat noch was im Keller und macht eine ganz besondere Flasche auf als Zeichen einer speziellen Wertschätzung. Das genießt du für eine längere Zeit und das ist dann dein Leben: Mensch, ich werde hier besonders behandelt, ich krieg hier die besten Weine und zahle vielleicht auch nur einen Teil des normalen Preises. Ich bin doch eigentlich happy und privilegiert. Bis dann irgendwann das Gefühl einsetzt, dass was nicht in Ordnung ist, kann das sehr lange dauern. Du fühlst dich erst mal in deiner Blase wohlig aufgehoben und die Abende sind wunderbar lang. Jetzt wo ich alkoholfrei bin, weiß ich, ein Menü zu verzehren ohne alkoholische Begleitung dauert viel kürzer wie mit. Weil unter Alkohol die Zeit eine andere Dimension hat.

HLZ:

Und wie sieht nun der nüchterne Abend aus? Und die nüchterne Kundenbeziehung?

HOLGER:

Es geht erstaunlich gut, vor allem wenn man ein Team hat, was auch so verkosten kann, auf das man sich verlassen kann. Zu mir kommen nur noch die Wackelkandidaten, die sagen: Holger, wir brauchen da deine Einschätzung. Das passiert nuralle paar Wochen.

HLZ:

Das heißt, du delegierst auch diese langen Abende im Restaurant?

HOLGER:

Ich gehe nur noch, wenn ich auch Lust dazu habe zu solchen Menüs, natürlich mit alkoholfreier Begleitung. Es ist ein Trugschluss, dass das gemeinsame Trinken zu besseren Geschäften führt und dass die Gastronomie-Kunden dann mehr bestellen.

Es ist viel besser, vor dem eigentlichen Betrieb zu erscheinen. Wenn die im Betrieb auch noch nüchtern und aufnahmefähig sind. Da kann man das Business Ergebnis viel effizienter erreichen. In einem ruhigen Gespräch. Das ganze andere Theater war doch oft eher eine Ausrede, um konsumieren zu können.

HLZ:

Das heißt der Gedanke “Wenn ich nicht mit dem ordentlich trinke, kriege ich den Deal nicht” ist Quatsch.

HOLGER:

Das ist nur eine Legitimation zum Missbrauch oder zum übermäßigen Genuss, mehr nicht. Ich sage nicht, dass da nicht wichtige Verträge entstehen könnten, so wie auch zum Beispiel unter Kokain wunderbare Drehbücher geschrieben wurden. Das heißt aber nicht, dass es auch nicht ohne das gegangen wäre. Das ist eher eine Frage der Fähigkeit, gewisse Kontrollmechanismen einzuschalten und zu lernen, sich gehen zu lassen auf einem nüchternen Weg. Aber das ist nicht leicht.

Am Anfang meiner Abstinenz habe ich auf diese großen Weinabende in Restaurants erstmal verzichtet. Diese starke Gewöhnung über Jahrzehnte sollte man nicht unterschätzen.

HLZ:

Wie hast du das mit deinem Team gemacht? Hast du gesagt: ich trinke jetzt nicht mehr, dann gucken wir mal, wie wir das hinkriegen?

HOLGER:

Das ging über die Macht des Faktischen. Ich hab meinen Alkoholausstieg nicht thematisiert, ich habe dafür nicht die Notwendigkeit gesehen. Meine Mitarbeiter, haben sofort gemerkt, was sich getan hat, einfach durch den andauernden Nicht-Konsum. Das war relativ schnell die neue Normalität.

HLZ:

Aber du musst ja auch aus professionellen Gründen Wein trinken.

HOLGER:

Warum? Ich muss Wein probieren. Aber das heißt ja nicht, dass ich den Wein auch trinken muss. Professionell ist das nicht notwendig. Schmecken und ausspucken, nicht trinken.

HLZ:

“Das gute Glas Wein” ist ein sehr emotionalisierter Terminus. Entspannung, Genuss, man lernt sich kennen, kommt sich schneller näher. in allen Beziehungen.

HOLGER:

Es gibt ein Wort, das alles zusammenfasst: Leidenschaft. Ich sehe jetzt eben beide Seiten, nicht nur die Faszination, sondern eben auch die damit einhergehende Wirkung und die Schattenseite. Ich habe die Fülle ausgekostet, aber ich habe einen Punkt erreicht, wo es für mich besser ist, das nicht weiter laufen zu lassen. Leidenschaftliche Beziehungen sind meistens nicht die, die ganz lange oder und ein Leben lang halten.

HLZ:

Bist du einer der wenigen, die Konsequenzen ziehen oder siehst du eine neue Bewegung im Umgang mit Wein? Weg von der old school Toskana Fraktion?

HOLGER:

In der Weinbranche und der Gastronomie würde ich sagen, es wird noch genauso tabuisiert wie eh und je. Ich sehe weder auf Messen noch sonstwo eine Veränderung, da wird weiter getrunken. Es gibt wenn dann individuelle Entscheidungen, aber nicht, dass eine ganze Branche auf einmal etwas einsieht, was eigentlich schon immer da war, nämlich den Missbrauch unter den eigenen Leuten.

Aber ich denke, dass sich in Zukunft keine Hotelkette oder keine größere Gastronomie mehr vor dem Thema “Alkoholmissbrauch im Job” drücken kann. Wenn ich an meine Ausbildung denke und die Berufsschule, dann wurde Alkoholmissbrauch, wenn überhaupt, gestreift. Da fand Vorsorge überhaupt nicht statt. In der Branche wird überall getrunken, da steht schon beim Frühstücks-Oberkellner die Tasse oben auf dem Bord, aber ohne Kaffee, sondern mit Champagner oder Cognac drin. Die Trinkerei wird eigentlich nur glorifiziert und schön geredet und die Kehrseite der Medaille wird tabuisiert.

Heute interessieren sich immer mehr Leute für Gesundheitsvorsorge und von der jungen Generation wird Alkohol viel kritischer gesehen. Vielleicht und auch konträr zu den Gewohnheiten der Eltern. Die Jungen machen das nicht so wie die Eltern und trinken dieses gemütliche Glas Wein. Da kommen dann andere Substanzen Drogen ins Spiel.

Alkoholmiss-brauch und Drogenmissbrauch bedeutet immer auch Arbeitsausfall. Das ist der Grund Nummer eins in der Gastronomie. Dazu gibt es Statistiken. Insofern ist es eigentlich auch im Interesse des Arbeitgeber, Schulungen für den Umgang mit Alkohol und Drogen am Arbeitsplatz anzubieten.

HLZ:

Thematisiert du das Problem, um andere auch dazu zu bewegen, sich mehr Gedanken über die Branche zu machen.

HOLGER:

Ich würde eher sagen, meine Ohren sind ein bisschen größer geworden. Ich biete mich an und werde da auch seit Abstinenz eingeweiht und erfahre von Problemen von Winzern oder Gastronomen, die ich vorher so nicht erfahren habe.

HLZ:

Was gibt's bei dir zu trinken, wenn du Gäste hast, was machst du jetzt anders?

HOLGER:

Das ist eine gute Frage. Das ist sehr unterschiedlich. Also teilweise nehme ich dann auch einen Wein von hier mit. Aber immer mehr akzeptieren auch, dass es bei mir alkoholfrei gibtnicht mehr getrunken wird. Oder sie finden es sogar gut, wenn ich als neuer Spezialist ein besonderes, neues alkoholfreies Getränk serviere oder mitbringe. Das sind dann richtig tolle Wein- oder Sekt Alternativen, die auch noch mal ein neues Geschmacks Muster abbilden.

HLZ:

Brauchst du neue Adjektive, um die alkoholfreien Alternativen zu beschreiben, oder arbeitest du mit dem Vokabular, was du vom Wein verkosten kannst?

HOLGER:

Mein Weinvokabular war ja sehr umfangreich. Ich sehe da wenig keine Notwendigkeit, das anzureichern.

HLZ:

Wird dein alkoholfreies Sortiment gut angenommen?

HOLGER:

Es wird hervorragend angenommen. Also Muri als Beispiel (Fermentierte Wein-Alternativen aus Kopenhagen, Anm. d. Red.), hat im Januar diesen Jahres bessere Verkaufszahlen als alle anderen Erzeuger. Wir kriegen auch neue Kunden. Menschen auszuschließen, die (zeitweise) keinen Alkohol vertragen oder nicht trinken wollen, finde ich nicht zeitgemäß.

HLZ:

Du hast vorhin gesagt, die Belegungsgzeit am Gastronomietisch schrumpft ohne Alkohol. Was rätst du Gastronomen, die die Sorge haben, ohne Alkohol kein Geld mehr zu verdienen?

HOLGER:

Also wenn man jetzt mal so davon ausgeht, dass der Trend irgendwann ankommt und die gesellschaftlichen Auswirkungen von missbräuchlichem Alkoholkonsum deutlicher werden, und dann der Alkohol auch bei uns teurer wird, dann wird das auch die Gastronomie verändern. Ich kann dann in fünf Stunden den Tisch zwei mal besetzen, weil sich die Zeiträume des Feierns verändern, wenn weniger Alkohol konsumiert wird. Und eine hervorragende nichtalkoholische Begleitung führt ja nicht nur zu einem weniger langen Aufenthalt, sondern zu fast ähnlich guten Erlösen für die Gastronomen. Also da ist also auch geschäftlich was zu machen. Die Leute, die früher Unsummen für Wein in Restaurants ausgegeben haben, sind jetzt auch bereit ordentlich Geld für tolle nichtalkoholische Getränke zu bezahlen. Die Abende werden anders, aber nicht schlechter. Auf eine Art auch schöner, ehrlicher.

Also für mich selbst kann ich sagen, dass durch die Abstinenz viel freigelegt wurde. Einiges gelingt mir jetzt, gerade emotional, was ich eigentlich immer so sehnsüchtig mit Konsum gesucht habe. Vieles wird viel langsamer, aber wertvoller durch die Abstinenz.

HLZ:

Danke für diesen schönen Gedanken zum Schluss.

“Die Abende werden anders, aber nicht schlechter. Auf eine Art auch schöner, ehrlicher.“